Maßnahmen in Zeiten von Corona
Nach wochenlanger genereller Schließung des Nicht-Lebensmitteleinzelhandels wurde am 16.04.2020 eine Lockerung der Maßnahmen vorgenommen, die vorgesehen hat, dass Geschäfte ab einer Größe von 800qm geschlossen bleiben und alle anderen unter verschärften Hygienemaßnahmen wieder öffnen dürfen.
Ein Artikel von Jarek T., Jahrgang 12 des Gymnasium Papenburg
In Zeiten von Corona kommt es in ganz Deutschland zu einem sehr regen Diskurs, wie Lockerungen auszusehen haben, da jeder einzelne Bürger betroffen ist und folglich auch jede Art von Rückkehr der Normalität sehnsüchtig erwartet wird. Nun traten ab dem 20.4. auch in Papenburg die neuen Vorgaben inklusive der 800-Quadratmeter-Regelung, die in der Berichterstattung häufig in die Kritik geraten ist, in Kraft. Zur Verdeutlichung der Auswirkung des Beschlusses ein Beispiel aus unserer Region: Zwei Modegeschäfte haben ein ähnliches Sortiment. Der eine Laden heißt Böckmann und der zweite Gerry Weber. Böckmann besitzt eine Verkaufsfläche von mehr als 800qm und Gerry Weber eine von unter 800qm. Durch diese Regelung ist es für den Besitzer des kleineren Ladens(Gerry Weber) früher möglich das Geschäft wieder zu öffnen, wodurch die Kunden des größeren Ladens (Böckmann), das noch nicht geöffnet werden darf, logischerweise zu dem geöffneten Geschäft gehen und nicht zu dem, das sie persönlich präferieren.
„Diese 800-Quadratmeter-Regelung ist absurd und falsch. Sie führt in erheblichem Maße zu Wettbewerbsverzerrungen.“, fasst Hans-Joachim Wunderlich der Industrie- und Handelskammer (IHK) prägnant zusammen (Schäfer, 2020). Nun stellt sich die Frage, wie funktionieren Eingriffe des Staates in die Wirtschaft außerhalb von Pandemien und ist die 800-Quadratmeter-Regelung wirklich „falsch“ und klare „Wettbewerbsverzerrung“?
Kommen wir als erstes zu der Frage „Wie darf der Staat in die soziale Markt-wirtschaft eingreifen und was sind Rechte und Pflichten der Akteure?“. Bei jeder politischen Entscheidung wirtschaftlicher Natur müssen stets fünf Prinzipien abgewägt werden, die auch durchaus miteinander im Konflikt stehen. Fangen wir bei den Basisprinzipien an: Die Haftungs- und Eigentumsprinzipien besagen, dass man ohne wirtschaftlichen Erfolg nicht auf dem Markt bestehen kann und ihn deshalb in letzter Konsequenz verlassen muss und dass man wirtschaftliche Freiheiten bekommt, aber auch Verpflichtungen gegenüber dem Allgemeinwohl eingeht.
Das Wettbewerbsprinzip besagt hingegen, dass in jedem Sektor der Wirtschaft Konkurrenz vom Staat gesichert sein muss, ohne einem Akteur Vorteile zu verschaffen. Idealerweise regeln Angebot und Nachfrage den Markt ohne staatliche Gewalt. Das größte Konfliktpotential innerhalb der sozialen Marktwirtschaft bieten jedoch das Marktkonformitätsprinzip und das Sozialprinzip. Marktkonformität bedeutet, dass die Preisbildung nicht von staatlichen Eingriffen gestört werden darf und das Sozialprinzip besagt, dass durch den Staat in den Markt eingegriffen werden darf, um sozial unerwünschte Ergebnisse, die durch den Markt entstanden sind, zu korrigieren. Der Konflikt liegt in dem fundamentalen Unterschied, dass das Marktkonformität die Macht des Staates begrenzt und das Sozialprinzip die Macht des Staates benötigt, um soziale Missstände zu beheben (Ringe & Weber, 2019).
Gehen wir nun über zur Betrachtung unseres Eingangsbeispiels, so sehen wir schnell, dass diese Regelungen nicht nur keinen fairen Wettbewerb gewährleistet, sondern für Vorteile auf Seiten der kleineren Einzelhändler sorgt. Damit verstößt die 800-Quadratmeter-Regelung klar gegen das Wettbewerbsprinzip, um seiner gesundheitsschützenden Verantwortung (Sozialprinzip) vermeintlich gerecht zu werden. Hierbei haftet ohne eigenes Zutun der Unternehmer über die weitere Zeit der Schließung und darf seinen Laden nicht betreiben, obwohl er ihm gehört (Eigentumsprinzip). Folglich widerspricht jegliche Schließung der Geschäfte in Bezug auf Corona schon den Basisprinzipien, doch war die generelle Schließung des Nicht-Lebensmittel-Einzelhandels eine Entscheidung von größter Notwendigkeit, um die weitere Ansteckung zu verhindern.
Viele Kritiker wettern hierbei hauptsächlich gegen erstens die willkürliche rote Linie der 800qm und zweitens, dass die Hygienemaßnahmen auf größeren Flächen besser eingehalten werden könnten, da dies eine größere Distanz zwischen den Menschen ermöglichen würde. So solle nicht die Größe als Auswahlkriterium dienen, sondern darauf geachtet werden, dass nur eine bestimmte Zahl an Menschen auf einer gewissen Fläche verteilt sind. Nicht die Ladenfläche, sondern die Umsetzbarkeit der Hygienevorgaben sollte folglich das alleinige Auswahlkriterium sein.
Hans-Joachim Wunderlich nennt dies dann wie eingangs erwähnt eine „absurd[e] und falsch[e]“ Maßnahme und redet von einer „erheblichen Wettbewerbsverzerrung“ (Schäfer, 2020). Auf die Vorwürfe von Absurdität und Willkür erwiderte der Kanzleramtsminister Helge Braun, dass es ein viel zu großes Infektionsrisiko darstellen würde, wenn alle Geschäfte in einer Innenstadt zeitgleich öffneten, da es hierbei zu vollen Fußgängerzonen kommen würde und das Gedränge im öffentlichen Nahverkehr zu groß wäre, „deshalb müssen die großen Geschäfte, die häufig auch Publikumsmagneten sind, noch eine Weile geschlossen bleiben“ (Pokraka, 2020). Es gibt aber durchaus Befürworter der gelockerten Maßnahmen wie den Präsidenten der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände Ingo Kramer, der in diesen „wichtige Schritte“ sieht, um mit dem Handel auch wieder die Produktion hochfahren zu können (Pokraka, 2020).
Meiner Meinung nach hat die Regelung zwar plausible Gründe und eine Wiederaufnahme des Einzelhandels ist essenziell, jedoch hat man mit dieser Regelung eine starke Verletzung des Wettbewerbsprinzips in Kauf genommen, was ich für verheerend halte. Zwar ist es bei wirtschaftlichen Entscheidungen immer schwierig mit Augenmaß die Balance zwischen den Prinzipien zu finden, doch hier halte ich den Beschluss für zu kurz und zu einfach gedacht. Durch den Beschluss ist es einfacher möglich Geschäfte zu kategorisieren, um große Menschenmassen auf den Straßen zu verhindern wie Helge Braun auch argumentiert, doch ist es vor allem in Krisenzeiten kurzsichtig einzelne Wirtschaftsakteure zu bevorteilen und andere zu vernachlässigen. Schon in den Wochen vor der Lockerung sind im Einzelhandel große Verluste zu verzeichnen gewesen, die auch größere Einzelhändler getroffen haben. Daraufhin der Konkurrenz zwei Wochen Vorsprung zu geben, entspricht bei weitem nicht den Ansprüchen der sozialen Marktwirtschaft und vor allem nicht denen der Gerechtigkeit in Deutschland. Wären nicht auch andere Möglichkeiten und Wege offen gewesen, um ein Risiko zu verhindern, ohne dabei gegen das Wettbewerbsprinzip so massiv zu verstoßen?
Jetzt würde mich interessieren, was für eine Ansicht der Dinge die Leser zu dieser Debatte haben: Findet ihr die Einflussnahme gerechtfertigt und sinnvoll? Oder stimmt ihr mir zu, dass die Umsetzbarkeit nicht über die Grundprinzipien zu stellen ist?
Quellen:
Gassmann, M. (16. April 2020). welt.de. Von https://www.welt.de/wirtschaft/article207312011/Ladenoeffnungen-So-willkuerlich-ist-die-800-Quadratmeter-Regel.html abgerufen
Pokraka, D. (16. April 2020). Tagesschau.de. Von https://www.tagesschau.de/inland/corona-massnahmen-117.html abgerufen
Ringe, K., & Weber, J. (2019). Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft. In K. Ringe, J. Weber, O. Thiede, & B. Wessel, Politik - Wirtschaft (Qualifiktationsphase 12) (S. 158-159). Bamberg: C.C. Buchner.
Schäfer, R. (27. April 2020). mdr.de. Von https://www.mdr.de/nachrichten/politik/regional/achthundert-qm-regel-sachsen-kritik-100.html abgerufen
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